Raus aus der Dysphagie
Mit Geduld und Ausdauer
Ein Praxisbeispiel
Peter Weste merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als er Blut spuckte. Natürlich geschah das an einem Sonntag, „wie das immer so ist“ fügt er seufzend hinzu. Im Interview erzählt er uns, dass man im Krankenhaus ein Oropharynxkarzinom am Zungengrund und der Supraglottis, dem obersten Abschnitt des Kehlkopfs feststellte. In einer großen Operation wurde das Karzinom entfernt, im Anschluss wurde ein Teil des Brustmuskels im Rachen als Rekonstruktion des betroffenen Bereiches eingesetzt.
Um die Wundheilung des Rachens zu ermöglichen, und zu verhindern, das Wundwasser in die unteren Atemwege gelangt, erfolgte noch eine Tracheotomie mit Einsatz einer blockbaren Trachealkanüle, und zur Sicherung der Ernährung wurde eine Magensonde (PEG) gelegt. Während der großen Operation musste außerdem der Kehldeckel entfernt werden. Nicht zuletzt daraus entstand eine Schluckstörung, eine sogenannte Dysphagie.
Unter einer Dysphagie versteht man Schwierigkeiten oder sogar das Unvermögen Speichel, Nahrung und/oder Flüssigkeiten sicher und effektiv herunterzuschlucken. Je nach Schweregrad kann eine Aspiration auftreten, welche das Eindringen von flüssigen und/oder festen Stoffen in die unteren Atemwege beschreibt. Für Peter Weste bedeutete das vor allem: trainieren, und nicht nur das Schlucken. Ihm zur Seite stand Birte Westkamp, Logopädin bei FAHL für die Region Nordrhein-Westfalen.
Die Therapie begann zunächst einmal damit, dass die Trachealkanüle entblockt und ein Sprechventil aufgesetzt wurde. „Neben der Möglichkeit, mithilfe eines Sprechventils das Sprechen zurückzuerlangen, sind diese Einwege-Ventile vor allem dazu da, die Atemluft wieder über die oberen Atemwege umzuleiten, um die Sensibilität zu verbessern, bzw. wieder herzustellen“ erklärt Frau Westkamp.
Im geblockten Zustand der Trachealkanüle herrscht in den oberen Atemwegen keine Luftzirkulation, was die Sensibilität verringert. Die Sensibilisierung der oberen Atemwege ist ein wichtiger Schritt, um dortige Sekrete überhaupt wieder zu spüren und z. B. den Hustenreiz wieder nutzen zu können. Husten ist ein Schutzmechanismus, der normalerweise unwillkürlich einsetzt, wenn man sich verschluckt. Es gibt aber auch Patienten, die haben eine so große Sensibilitätseinschränkung, dass sie es nicht bemerken, wenn sie sich verschlucken. Dies nennt man stille Aspiration. Ein reflektorischer Husten setzt beim Verschlucken nicht ein und das Aspirat kann ungehindert in die unteren Atemwege bis in die Lunge gelangen. Dies war zu Beginn auch bei Herrn Weste der Verdacht, der sich mit der apparativen Diagnostikmethode FEES (Fiberendoskopische Evaluation des Schluckens) auch bestätigte. Ein Verdacht auf stille Aspiration sollte also unbedingt apparativ abgeklärt werden. Bei entblockter Kanüle und aufgesetztem Sprechventil kann auch die Schluckreflexauslösung und die Koordination des Schluckaktes trainiert werden.
Die Schluckreflexauslösung war bei Peter Weste aufgrund der Bestrahlung verzögert und die Sensibilität in den oberen Atemwegen eingeschränkt. In den Therapien arbeitete die Logopädin deshalb häufig mit Eis, um der Schleimhaut mehr Information mithilfe der niedrigen Temperatur zu geben. Dadurch sollte der Schluckreflex wieder zügiger ausgelöst und gleichzeitig die Sensibilität verbessert werden, damit Herr Weste z. B. Reste, die ggf. nach dem Schlucken im Rachen verbleiben, wieder besser spüren und eigenständig bereinigen konnte.
Zur Vorbereitung auf das Schlucktraining lockerte Birte Westkamp zu Beginn der Therapie die Hals-, Nacken- und Schultermuskulatur und die Schluckmuskulatur ihres Patienten. Auch die Vertiefung seiner Atmung spielte eine Rolle. Trachealkanülenträger neigen dazu, sehr flach und hoch (in den Brustkorb) zu atmen. Das führt dazu, dass untere Lungenareale möglicherweise nicht, oder nicht gut genug, belüftet werden. Durch das Entblocken und die Nutzung des Sprechventils wird der Atemweg wieder länger und der Atemwiderstand höher, dennoch benötigen die Patienten häufig auch etwas Unterstützung bei der Atmung in den Bauch.
Peter Weste wurde im therapeutischen Rahmen angeleitet, wie er sich selbst entblocken und das Sprechventil aufsetzen kann. Auf diese Weise konnte er selbstständig üben, z.B. das kompensatorische Schluckmanöver "supraglottisches Schlucken".
Dieses Schluckmanöver sollte Herr Weste zu Beginn nur beim Speichelschlucken anwenden. Später, als in der Therapie auch mit Kost (also Essen) gearbeitet wurde, durfte er das Schluckmanöver auch außerhalb der Therapie, mit kleinen Mengen eigenständig trainieren. Bei diesem Schluckmanöver ist es wichtig, dass man schon vor dem regulären Atemstopp die Luft aktiv anhält, um den Verschluss des Kehlkopfeinganges zu verlängern. Nach dem Schlucken soll ohne Zwischenatmung gehustet/geräuspert und nochmal nachgeschluckt werden. Erst danach wird wieder geatmet. Durch den fehlenden Kehldeckel als Schutzvorrichtung war es Herrn Weste so möglich, Nahrung aus dem Kehlkopfeingang hochzuhusten, und im Anschluss wegzuschlucken, um so eine Aspiration in die unteren Atemwege zu verhindern.
Das Schlucktraining selbst empfand Herr Weste am Anfang als sehr anstrengend, wie er im Interview beschreibt: „Und ich war überrascht, wie viele Kalorien man dabei verbraucht!“ Das Thema Ernährung ließ den 65-jährigen nicht los. Er entwickelte eine Art Beschäftigungstherapie und kochte jeden Tag, um seine eigene, perfekte Nahrung für die Magensonde zu finden. „Stundenlang habe ich geschnippelt, gekocht, püriert und verfeinert“ erzählt er. Zuerst musste die richtige Konsistenz gefunden werden, damit die Nahrung auch über den PEG-Schlauch in den Magen gelangen konnte. Das erforderte viele Anläufe. Letztendlich schaffte Herr Weste es und ersetzte täglich eine Sondennahrung durch seine selbstgekochte.
Peter Weste trainierte täglich fleißig, auch seine motorischen Fähigkeiten. Er fing mit puzzeln an, um die Feinmotorik der Finger zu trainieren. Ganz nebenbei stimuliert puzzeln auch die kognitiven Fähigkeiten1, ein willkommener Nebeneffekt. Irgendwann begann Peter Weste mit Holzarbeiten und später dann mit technischen Bastelarbeiten. Die Fitness durfte auch nicht zu kurz kommen. Zunächst begann er mit kleineren Spaziergängen, bei entblockter Trachealkanüle mit aufgesetztem Sprechventil, zur Verbesserung der pulmonalen Situation. Im Laufe der Zeit konnte er die Wege immer weiter verlängern und die Geschwindigkeit nach und nach steigern, bis hin zum Joggen. Die körperliche Fitness war auch für die fortschreitende Therapie wichtig. Jetzt konnten Frau Westkamp und Herr Weste das Shaker-Manöver üben.
Das Shaker-Manöver ist eine ganzkörperliche Kräftigungsübungen mit dem Ziel, die Kehlkopfmuskulatur zu stärken, und obendrein die Öffnung der Speiseröhre zu verbessern. „Diese Übung ist sehr anspruchsvoll bzw. erfordert eine gewisse Fitness“ sagt Birte Westkamp. Und so geht’s: Flach auf den Rücken legen, z.B. auf eine Matte auf dem Boden, Kopf anheben und zur Brust neigen, Schultern bleiben auf der Matte/dem Boden liegen und die Füße anschauen – diese Position wird 1 Minute gehalten. Danach nimmt man 30x den Kopf hoch und senkt ihn wieder ab. 3x täglich und mindestens 6 Wochen sollte man diese Übung machen.
Nach 1 ½ Jahren gewissenhaften Trainings, sowohl logopädisch als auch physisch und ernährungstechnisch, war Herr Weste bereit für die Dekanülierung, also dem Entfernen der Trachealkanüle und, in Herrn Westes Fall, dem operativen Verschluss des Tracheostomas. Auch die PEG konnte entfernt werden. Für ihn bedeutete das eine große Erleichterung! Körperlich ist er mittlerweile so fit, dass er 10 Kilometer problemlos joggen kann.
Inzwischen ist eine sichere Nahrungsaufnahme möglich, das Essen kostet allerdings immer noch viel Zeit und Konzentration (Umsetzung von erlernten Schluckmanövern) und geht auch nicht ganz ohne Konsistenzanpassungen. Zudem ist im Übergang vom Rachen zur Speiseröhre ein neues Hindernis entstanden (ähnlich einer Hautfalte), welches das Abschlucken der Nahrung erschwert und Herrn Weste als Kloß im Hals vorkommt. In einer erneuten Rehabilitationsmaßnahme im Herbst soll dies nochmal genauer durchleuchtet und therapeutisch begleitet werden. Mit „seiner“ Logopädin Birte, ist Herr Weste weiterhin in losem Kontakt, auch wenn sie keine Therapiestunden mehr haben.
Quellen:
1 Fissler P, Küster OC, Laptinskaya D, Loy LS, von Arnim CAF, Kolassa IT. Jigsaw Puzzling Taps Multiple Cognitive Abilities and Is a Potential Protective Factor for Cognitive Aging. Front Aging Neurosci. 2018 Oct 1;10:299. doi: 10.3389/fnagi.2018.00299. PMID: 30327598; PMCID: PMC6174231.